Geschabte und wiederbeschreibbare Schreibtafel
- so lautet die wörtliche Übertragung des Begriffs "Tabula rasa" aus dem Lateinischen. Damit ließe sich treffend der geplante Umgang mit der denkmalgeschützten Innenraumgestaltung der St. Hedwigs-Kathedrale beschreiben, wenn es nach dem erstplatzierten Entwurf des Wettbewerbs ginge.
Alle mit der Grundfläche verbundenen baukünstlerischen Einbauten würden geschleift bzw. entfernt, die vorhandenen Höhendifferenzierungen nivelliert und die Verbindung mit der Unterkirche durch Betonierung unterbrochen. Damit wären die im Laufe der Geschichte eingeschriebenen Erinnerungen und Aufbrüche getilgt, um aktuelle Auffassungen auf einem unbeschriebenen Blatt mit neuen Formen ausdrücken zu können.
Vollständig geschlossener und nivellierter Boden des Kirchenraums im Siegermodell des Wettbewerbs |
Auslotung der Gründe für die Löschung der geschichtlichen Spuren
Grund für die tiefgreifende moderne Umgestaltung (1955 - 1963) durch Hans Schwippert war der Wiederaufbau der Ruine in einer Zeit des Neubeginns nach der Katastrophe des 2. Weltkriegs.
Nur 50 Jahre später wird mit dem Ergebnis des Wettbewerbs eine weitgehende Auslöschung der wertvoll ausgestatteten und auf Kontinuität angelegten Gestaltung angestrebt.
Welche schwerwiegenden, grundsätzlich erschütternden Probleme begründen einen derart rigorosen Umgang mit dem Zeugnis des Wiederaufbaus der Kathedrale?
Abneigung gegen eine Deckenöffnung, fehlende Umschreitbarkeit des Altars oder Ähnliches können Reibungspunkte für theologische Diskussionen sein, doch sind es wohl kaum derart existenzielle Gründe, die seinerzeit Bischof Weskamm zur Neugestaltung der St. Hedwigs-Kathedrale veranlassten.
Gut Ding will Weile haben
Erweist sich die derzeitige Gestaltung, deren Qualität von Wenigen bestritten wird, im Vergleich mit dem jüngst prämierten Entwurf als künstlerisch minderwertig, funktional ungenügend und zum Abriss bestimmt? Da es keine schwerwiegenden akuten Gründe für eine sofortige Entfernung der denkmalgeschützten Fassung zu geben scheint, sollte man dem neuen Vorschlag ausreichend Zeit einräumen, seine exzeptionelle Überlegenheit gegenüber der Gestaltung Schwipperts im Erzbistum deutlich hervortreten zu lassen.
Es wäre ein souveräner Ausdruck von Geschichtsbewusstsein und Vorgängerrespekt, wenn am Ende eines sorgsamen und ruhigen Abwägungsprozesses erst der Nachfolger* im Bischofsamt die Entscheidung gegen oder für eine Denkmalabschaffung treffen würde.
(* Aus aktuellem Anlass sollte es besser heißen: der Nachnachfolger im Bischofsamt.)
Eile und Wechsel als Tribut an die Moderne?
Womöglich sind es gerade Kontinuität und Dauerhaftigkeit, die dem Zeitgeist nicht mehr entsprechen und die angestrebte Löschung des entgegengenommenen Erbes begründen. Veränderungszyklen in der Technik haben sich seit dem vergangenen Jahrhundert rapide und immer stärker verkürzt. Aus dieser Perspektive gesehen, sind 50 Jahre Bestandszeit für eine denkmalgeschützte Gestaltung geradezu altmodisch lang.
Überdauerte die von Bischof Weskamm initiierte und geförderte Gestaltung die Amtszeiten von mindestens vier Bischöfen und Erzbischöfen, so könnte das derzeitige Verfahren darauf verweisen, dass von nun an unterschiedliche theologische Auffassungen kurzfristiger zu Baumaßnahmen an der Kathedrale führen werden.
Der präsentierte Entwurf, der zur Zeit für eine Umgestaltung in Betracht gezogen wird, lässt noch nicht gesichert erkennen, ob Materialien ins Auge gefasst werden, die in dieser Hinsicht leichter rückbaubar sind und schnellere zukünftige Veränderungen ermöglichen.
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